Die Welt verändern und Kitaplätze suchen

Martin Schimmel, Ausserordentlicher Professor für Gerodontologie an der Universität Bern
© Universität Bern. Bild: Daniel Rihs

Martin Schimmel

Ausserordentlicher Professor für Gerodontologie

Prof. Dr. Martin Schimmel (Extraordinarius) ist Leiter der Abteilung für Gerodontologie und Leiter des zahntechnischen Labors an den Zahnmedizinischen Kliniken zmk bern, Universität Bern (100%). Sein Lehrauftrag umfasst die Gerodontologie und die abnehmbare Prothetik. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

 

Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit und was ist das Besondere dabei?

Hier an den zmk bern gefällt mir besonders die Abwechslung von Forschung und Patientenbehandlung. In der Lehre fasziniert mich vor allem, wie die jungen Studierenden sich so rasch entwickeln und mit welcher Geschwindigkeit sie den umfangreichen Lehrstoff «aufsaugen» und ihre praktischen Fertigkeiten entwickeln.

Inwiefern ist Ihre Laufbahn vom «klassischen» akademischen Weg abgewichen?

Ich habe in Deutschland studiert und an der gleichen Universität drei Monate nach dem Staatsexamen promoviert – das war möglich, weil ich parallel zum Studium die klinischen Experimente durchführen konnte. Dann bin ich an die Universität Leipzig gewechselt, dort wurden meine Vorstellungen aber nicht erfüllt und ich bin in die Privatpraxis gegangen. Damit bin ich vom klassischen akademischen Werdegang abgewichen. Nach vier Jahren Arbeit als Allgemeinzahnarzt, davon drei Jahre in England, habe ich mich an der Universität Genf als Maître Assistant für ein SNF-Forschungsprojekt beworben. Ich habe also mit 33 Jahren den Wiedereinstieg in eine akademische Laufbahn gemacht – das war der eigentliche Start meiner Karriere, denn vorher in Leipzig war ich nicht wirklich wissenschaftlich tätig. Ich denke, dass jemand von der Universität in die Praxis wechselt, dort lange tätig ist und dann wieder zurück an die Universität geht, das kommt nicht so häufig vor.

Welche Hürden gab es und wie haben Sie diese überwunden?

Die grössten Hürden habe ich an der Schnittstelle von Privatleben und beruflicher Karriere erlebt. Ich bin viel umgezogen, und erst als ich mit Anfang 30 nach Genf kam, habe ich meine jetzige Frau kennengelernt. Dort wurde auch unsere mittlerweile vierjährige Tochter geboren. Wenn man wie ich relativ spät in der Wissenschaft startet, muss man noch mehr Zeit und Energie investieren, um akademisch mit den MitbewerberInnen mithalten zu können. Gleichzeitig wollte ich aber auch eine Familie gründen. Das fand ich schwierig. Gerade weil in Genf – und das ist in Bern ähnlich – die Kinderbetreuung wirklich schwer organisierbar ist. Meine Frau hatte damals ihre Stelle in Deutschland aufgegeben. Sie ist promovierte Filmwissenschaftlerin. Als sie nach Genf kam, hat sie als Freelancerin für die NZZ und die SDA geschrieben, eine Firma gegründet und einen Film produziert. Als dann unsere Tochter zur Welt kam, ging das alles aber nicht mehr. Wenn man keine Grossmamis in der Nähe hat, ist man halt auf die staatliche Kinderbetreuung angewiesen. Fällt beides aus, wächst die Frustration, Spannungen entstehen, und die beeinflussen dann natürlich auch die Arbeit.

Welches sind für Sie die Vorteile Ihres besonderen Werdegangs?

Ich bin in der DDR geboren und wir sind dann 1984, bevor die Mauer fiel, nach Westdeutschland emigriert. Dann war ich mit 16 ein Jahr in Australien, anschliessend wieder in der BRD für 16 Jahre, anschliessend drei Jahre in England und jetzt seit fast zehn Jahren in der Schweiz. Das heisst, ich habe wirklich in fünf Kulturkreisen zumindest ein Jahr, eher länger, gelebt. Und das ist mir eingeimpft. Ich lebe das wirklich, dass die Welt bunt ist. Ich habe so viel gesehen, nicht geplant oder absichtlich, aber mein Leben hat sich eben so entwickelt. Und ich habe so viele verschiedene, aber gleichermassen funktionierende Lösungsansätze für das gleiche Problem gesehen, dass ich Doktrinen ziemlich ablehne. Und das, glaube ich, ist der Vorteil des vielen Umherziehens. Ein Vorteil ist auch, dass ich in der zahnärztlichen Prothetik drei bis vier Lehrmeinungen, die komplett konträr waren, erlebt habe. Ein weiterer Vorteil ist natürlich die Mehrsprachigkeit. Ich spreche drei Sprachen fliessend. Berndeutsch muss ich noch lernen!

Welche strukturellen Veränderungen wünschen Sie sich an den Universitäten?

Als ich vor zwei Jahren nach Bern kam, fanden wir das Angebot schon enttäuschend. Wenn jemand wie ich kommt, mit einem kleinen Kind und einer hochqualifizierten Frau, müsste ein Kitaplatz angeboten werden und eigentlich auch eine Stelle für die Frau oder mindestens eine effektive Stellenvermittlung. Ich habe im letzten November ein schriftliches Angebot von einer renommierten Universität in Kanada erhalten. Da gab es genau das. Die hätten die Kinderbetreuung organisiert, uns ein schönes Apartment besorgt, und meine Frau hätte ebenfalls eine Stelle an der Universität bekommen. Das wäre alles organisiert worden, das gehört dort dazu. Ich habe das dann nur deshalb nicht angenommen, weil unsere Eltern jetzt nach und nach etwas mehr Hilfe benötigen. Wir wollten dann nicht so weit weg ziehen. Da muss sich die Universität Bern der internationalen Konkurrenz bewusst sein, wenn sie internationale WissenschaftlerInnen anziehen möchte.

Welche Tipps geben Sie dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Bezug auf eine wissenschaftliche Karriere?

Im Nachhinein finde ich es gut, dass ich so viel gesehen habe. Dann weiss man, dass die Welt nicht nur aus Bern, Leipzig oder London besteht, und auch, dass die Leute jeweils anders funktionieren. Das finde ich ganz wichtig. Und wenn man die wissenschaftliche Karriere so spät beginnt wie ich, sollte man die Mainstream-Themen des Fachgebietes vermeiden. Man muss sich ein Thema suchen, das einem wirklich Spass macht. Man muss so viel investieren, Stunden und Herzblut. Bei einer richtigen akademischen Karriere verschwimmen Freizeit und Beruf komplett miteinander. Deshalb braucht man ein Thema, das einen wirklich bewegt, wo man Spass hat und denkt, «hier kann ich die Welt verändern». Und dann schafft man das auch!

Wie verbringen Sie Ihre Zeit?

Prozentual Stunden pro Tätigkeit in einer durchschnittlichen Woche:

Zeitdiagramm von M. Schimmel, Universität Bern
© Christa Heinzer